13 Lieder über Zwischenorte

Irgendwo zwischen Schlafen und Wachen liegt ein Ort, an dem nichts ist und alles scheint. Ein Ort, an dem man nichts weiß und alles ahnt. An dem man nichts denkt und alles spürt. An dem die reife Schwere der Erkenntnis von den zarten Flügeln der Fantasie getragen wird. Während man den Moment genießt, erlebt man sein Vergehen. Der Geist oszilliert zwischen Klarheit und Entrückung. Es ist ein schöner Ort und ein gefährlicher, man darf dort nicht verweilen. Davon handeln die Lieder hier.

13

Daydream – Marilies Jagsch
I’ll be back in this world when the sun goes down

Mit diesem Lied endet Marilies Jagschs Debütalbum Obituary for a Lost Mind. Der Verstand findet also seinen Weg zurück. Die Rückkehr war von Anfang an Teil des Plans, und das ist entscheidend, denn das markiert die Grenze zwischen Traum und Tragik.

12

Silberweidenpark – Deichkind
Fühl die Welt um dich herum, so intensiv und bunt

Die Vögel zwitschern, es ist ein schöner Tag. Der Kopf ist leer. Der träge Geist geht ganz darin auf, seine Umgebung wahrzunehmen. Auch durch besonders intensive Wahrnehmung der Welt kann man sich in ihr verlieren.

11

I Remember California – R.E.M.
I recall that you where there. Golden smile and shiny hair

Hippies, die mit LSD experimentieren. Der trügerische Glanz Hollywoods. Die kalifornische Sonne, die alle mit ihrem unwirklichem Schein blendet. Fast könnte man glauben, dass R.E.M. hier die Vorlage für jeden einzelnen Kalifornien-Song der Red Hot Chili Peppers geliefert haben. Und auf irgendeine vertrackte Weise klingt Syd Barretts Golden Hair durch. Der hat sich tatsächlich an einen unwirklichen Ort begeben und nie wieder zurückgefunden.

10

Harmonie ist eine Strategie – Tocotronic
Kratz keine Namen in die Wand, ritz keine Namen in die Hand, führ keine Hand an meinen Mund

Eigentlich könnte fast jeder der neueren Songs von Tocotronic auf dieser Liste stehen. Harmonie ist eine subtile Steigerung, aber die rettende Auflösung kommt nicht. Das, wovon uns Tocotronic erzählen, endet nie. Es wird nur leiser. Als Nachhall ist es auch dann noch vernehmbar, wenn der Song längst schon vorbei ist. So wie uns ab und zu tagsüber ein Traum durch den Kopf geht, den wir direkt nach dem Aufwachen schon vergessen hatten. Da war was, aber wir wissen nicht, was es ist.

9

Extinguish me – Soap & Skin
I search in snow, in vain, for your footsteps trail. I have to kiss them with my scalding tears until I see the ground

Anja Plaschg hat sich verlaufen. Sie sucht aber nicht die Spuren von jemand bestimmten, sondern einfach nach irgendetwas, das außerhalb ihrer selbst liegt. Jedoch nicht, um den Spuren zu folgen und einen Weg nach draußen zu finden. Ihre Spurensuche ist nur mehr mit der Hoffnung auf Zerschmelzen und Auflösung verbunden.

8

Der Wind – Blumfeld
Und immer weht der Wind und immer wieder fall ich ins Nichts zurück und geh umher

Der Zwischenort, an dem sich Jochen Distelmeyer befindet, ermöglicht es ihm, einmal nicht Jochen Distelmeyer zu sein, sondern darüber nachzudenken, was es heißt, Jochen Distelmeyer zu sein. Und was heißt es? Das weiß er auch nicht so genau, aber einfach ist es jedenfalls nicht. Ich bin froh, dass er den Job übernommen hat. Amen.

7

It’s been done – Angela McClusky
And oh I’m so proud of living

Man darf annehmen, dass Angela McClusky einiges erlebt hat. Schon der Titel des Songs klingt wie ein Resümee. Hier ist die Liebe nicht selbstverständlich, und das Leben auch nicht. Aber sie hat es gemacht, leben und lieben. Darauf darf sie stolz sein. Der Tod ist nicht nah, aber auch nicht mehr unvorstellbar fern. Das ist in Ordnung, davor muss man keine Angst haben. Überhaupt wäre es doof, sich von der Angst vereinnahmen zu lassen. Was zählt, ist das, was wir in diesem Augenblick spüren. Und das ist gut.

6

Feeling Good – Nina Simone
And this old world is a new world and a bold world for me

Wenn sich Nina Simone gut fühlt, dann spürt das die ganze Welt. Der Moment des Neubeginn und der des Abschlusses verschmelzen, die alte Welt ist die neue Welt. Es gibt nur zwei Momente im Leben jedes Menschen, an denen das nicht so ist, am Anfang und am Ende. Das Leben ist alles zwischen diesen beiden beiden Momenten, und das besingt Nina Simone hier.

5

Running Dry (Requiem for the Rockets) – Neil Young and Crazy Horse
I’ve shamed myself with lies. But soon these things are overcome and can’t be recognized

Neil Young hat Schuld auf sich geladen, er hat eine Frau velassen und schämt sich seiner Lügen. Jetzt sucht er jemanden, der ihn tröstet. Denn sonst geht’s nicht weiter. Das wäre ein ziemlich gewöhnlicher Folk-Song, aber die jammernde, wehmütige Violine fällt aus dem Rahmen. Sie lässt das Lied entrückt wirken und gibt einen Hinweis. Die Dinge, von denen Neil Young reden will, werden bald überwunden und nicht mehr erkennbar sein. Aber warum sollte er so schnell vergessen, was passiert ist? Das wird er nicht, aber seine Gefühle dabei wird er vergessen. Irgendwann werden sie auf eine einfache Formel reduziert sein. Darum muss er jetzt darüber reden. Seine Lügen sind also keine wirklichen Lügen. Er hat nur seine Gefühle nicht ehrlich dargestellt. Das ist schlimm genug.

4

Walzer für niemand – Sophie Hunger
Niemand schau her, ich wachse nicht mehr. Meine Hände sind Füße, bald bin ich nichts und das was dann bleibt ist deine Wenigkeit

Niemand versteht dieses Lied. Ich verstehe es nicht. Es verstehen zu wollen wäre auch falsch. Sophie Hunger gelingt es hier, Fantasie direkt in Sprache umzuwandeln, ohne allzu viel Verstand dazwischen zu schalten. Dafür, dass ihr das gelingt, hat sie Applaus und Bewunderung verdient. Ich bin einmal aufgewacht und konnte gerade noch sehen, wie ein Bein hinter meiner Zimmertüre verschwand. Ich bekam Angst und habe die ganze Wohnung durchsucht. Niemand war da. Ich hatte vor niemand Angst und neuen Respekt vor meiner Vorstellungskraft.

3

Sing Swan Song – Can
Shaking her cold hand to hear. You’ve been just the drunky hot bowls

Ein Schwan, glaubten die Menschen im Mittelalter, sei sein ganzes Leben lang stumm. Nur ein einziges Mal singe er ein Lied. Das Lied sei unendlich schön, er singe es im Moment seines Todes. Sing Swan Song ist von Can ist beides: Schön und traurig. Ich wüsste zu gerne, was für Damo Suzuki so schön und traurig war. Aber der Text des Songs ist ein undurchdringliches Gestrüpp, keine geharkten Beete mit sorgfältig angeordneten Wortpflanzen. Man kann nicht alles in Worte fassen und sollte es auch nicht immer versuchen. Bob Dylan singt in Ballad of a Thin Man: „You see somebody naked and you say ‘Who is that man?’ You try so hard but you don’t understand.“ Auf dem Grabstein von Charles Bukowski steht: „Don’t try“

2

Cyprus Avenue – Van Morrisson
Not a thing that I can do. I may go crazy before that mansion on the hill

Van Morrisson schlendert durch seine Heimatstadt Belfast. Er ist kein Kind mehr und noch nicht erwachsen. Schulmädchen kommen die Straße entlang, Herbstblätter fallen von den Bäumen. Eine Kutsche vorbei, die von sechs weißen Pferden gezogen wird, seine Lady kommt vom Jahrmarkt zurück. Aber die Lady ist nur ein vierzehnjähriges Mädchen mit regenbogenfarbenen Schleifen im Haar. Es passiert nicht viel, aber Morrisson geht so sehr darin auf, dass er fürchtet, den Verstand zu verlieren. Die Eindrücke fesseln ihn und nehmen ihm die Sprache. In jeder Kindheit gibt es eine Cyprus Avenue; meine heißt Schloßstraße. Morrisson hat die Begabung, sich an sie erinnern zu können. Und er hat eine Sprache gefunden, mit der er aus der Distanz der Jahre das ausdrücken kann, was er damals aufgesogen hat.

1

Den Teufel tun – Nils Koppruch
Den Teufel will ich tun, sang dieses Mädchen. Allein am schwarzen Tümpel will ich knien. Wenn alle andern fürchten oder tot sind, setz ich meinen letzten Mut aufs Spiel

Nils Koppruch singt von dem Lied, das er gerne singen würde. Ich würde es nur zu gerne hören. Das darf ich nicht, denn dieses Lied ist nur Traum und Vorstellung, dadurch entsteht seine Kraft. Irgendwo singt dieses trotzige, mutige Mädchen sein Lied. Ich werde es nie hören, Koppruch konnte es nie singen. Aber dank des Mädchens konnte Koppruch die Lieder singen, die er sang.

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